Donnerstag, 4. Juni 2015

Konstanzer Schule

In den Staub, der gefallen ist von den Bäumen und gelb liegt auf Straße und Dach, den Wagen der braven und anständigen Leute, hat jemand geschrieben WARUM?, mit spitzem Finger, und ging einfach weiter. Zurück bleiben wir und der Tag und die Frage: gelassen, vermacht, bis der Regen kommt, heiter.

Freitag, 27. März 2015

Einzelhandel

"Es gibt keine Liebe mehr auf der Welt", sagt Frau N., wenn man sie fragt, und seufzt. "Selbst der Gerd und die Doris sagen das", sagt Frau N. 
Frau N. hätte gern einen, der sie lieb hat, dem sie "Danke, nur so" sagen kann, wenn er lächelt: "Wieso?", und dann sagt: "Weil du mir winkst, wenn ich davonfahr und im Rückspiegel sehe, dass du winkst, wenn ich schon um die Ecke bin und das gar nicht mehr sehen kann, aber weiß, dass du noch draußen stehst und schaust, ob es regnet, weil ich vorsichtig fahren soll." Das denkt Frau N., wenn sie die Musik im Radio lauter dreht, weil sie ihre Gedanken nicht hören will und das Drehen der Reifen auf der Straße, die asphaltschwarz glänzt, weil es nieselt. Man sollte vorsichtig fahren, der Staub von den Blüten im Lenz, jajajaja. Und sie glaubt, dass es schön wär, wenn jemand ihr winkte, zum Abschied, nur kurz, wenn sie ginge, nur auf die Schnelle, noch ein Brot, einen Wein kurz vor acht, bin doch gleich zurück, der dann sagte: "Tschüss, bis gleich", denkt sie und kann sich nicht hören, weil die Musik so laut ist, laut wie ein Krach in der Stille, danach. Im Scheinwerferschein tanzen die Tropfen, ganz klein sind sie, und ein feiner Schleier liegt über dem Tag, der zerfließt. Kurz vor acht, noch ein Brot, einen Wein, das ist doch zu schaffen. Da vorne ist Aldi. Die Strecke ist frei, der Rückspiegel leer.

Donnerstag, 12. März 2015

Und gut

Ein weißes Papier ist der Tag. Unter den Beinen, die die Untergrundbahn in den Himmel tragen, der blau ist und hanseatisch strahlt, fließt der Fluss durch die Stadt. Tauben gurren und tun, als wären sie Möwen. Herr D. fährt die Straße am Fluss entlang, um die Leere zu füllen. Er sieht durch die Beine, die die Bahn aus dem Tiefen in den Himmel hieven, gestelzt, ein Als-Ob, die Tauben am Fluss, die keine Ahnung haben und wissen, dass das Meer noch weit ist, an der Mauer, am Kai, die nicht Emma heißen, weil das Publikum hier Möwen nicht kennt. Ein dicker Mann kommt zum Angeln. Flügel fliegen auf. Sie schlagen, steigen hoch und höher als die U-Bahn, und wären sie schneller, würden sie den makellosen Himmel streifen wie ein Düsenjet. Die haben's nicht gut, denkt Herr D., mittelalt, und steht bei Rot, schon um etwas zu denken (der Kopf ist ein leeres Blatt) und denkt über Tauben nach: Ich stehe bei Rot. Ich sehe einen Mann, der auch einmal jung war, jetzt dick und angelnd. Vielleicht kannten wir uns einmal. Ich fahre weiter und werde ihn nie fragen. Leer ist der Tag wie mein Kopf. Schön.

Freitag, 6. Februar 2015

Serendipität

Zwischen den Steinen im Gleisbett der Tram liegt fehl am Platz, kanariengelb, rund wie das O in Obacht ein Knopf, losgerissen, fortgewollt, wer weiß, warum, nun hier: zwischen den Steinen im Gleisbett der Tram. Ich sehe ihm zu, wie er daliegt und aussieht, als würde er warten auf etwas, darauf, gefunden zu werden wie ein verlorener Gedanke, ein Post-it, auf dem "Milch" steht und "Butter" oder "Schatz, ich liebe Dich sehr", und warte. 
Vielleicht denkt er das Gleiche von mir.

Freitag, 2. Januar 2015

Verpasst

Rüdiger war da. Rüdiger hat ein Buch geschrieben. In den Cordhosen, die er noch immer trägt. Sagt Tim. Ich habe Rüdiger nicht erkannt oder war zu spät, weil ich einen Parkplatz suchen musste, oder wollte es nicht, weil damals an der Haltestelle der 49 "Johnny war hier" stand und ich mir wünschte, dass sich Rüdiger Johnny nennt, weil niemand in der Welt "Rüdiger war hier" an eine Haltestelle schmiert. Und dann hätte er ein paar Wochen später auch "Johnny ist glücklich" ranschreiben sollen, weil es mich gibt. Und er das jetzt weiß. Aber das hat er nicht. Und jetzt war er da, und ich habe ihn nicht erkannt, oder ich war zu spät und er schon wieder weg. Tim ist jetzt vierzig und kann ja auch nicht auf alle Gäste achten. Er wusste nur das mit Rüdiger und dem Buch und den Hosen und lachte und meinte: "Naja, der Rüdiger ...", und dass das wohl so nie was mit den Frauen wird.
Vielleicht hätte ich die Bahn nehmen sollen. Dann hätte ich ihm gesagt, was man so sagt: "Schön, dich zu sehen", und ihn gefragt, ob es da, wo er jetzt wohnt, auch eine Straßenbahn gibt. Aber wahrscheinlich hätte er nur komisch geguckt. Das hat er immer. Und nichts gesagt. Höchstens: "Ich bin ganz gern allein. Ist schon ok. Und du so?" Ich hätte mich sagen hören: "Ja, klar." Und gedacht hätte ich: "In meinem Herzen, da bist du allein. Da ist nur Platz für dich." Hätte ich.

Freitag, 5. Dezember 2014

Kopenhagener Deutung

Der Tag streitet nicht. Schweigend legt er seinen Nebel in die Schwebe, tröpfchenweise, als verborgene Variable. Er klärt die Fronten. Irgendwo im Nebel verlaufen sie sich. Unscharfe Relationen. Kein Regen fällt ins Wort. Stilles Grau liegt in der Natur der Teilchen. Ort und Impuls nicht zuordenbar. Auf Wiedersehen, sagst er zu ihr. Auch ein Satz zur Erhaltung. Paradox. Und geht.

Donnerstag, 27. November 2014

Lassen

... und da sie sehr gut schwimmen kann, müsste sie Steine in die Taschen ihres Mantels stecken. Talent verkompliziert vieles. Können kann sich hinderlich auf die Lebensplanung auswirken, denkt sie. Nein, das wird sie erst später sagen, wenn man sie befragt. 
Das Spreeufer ist kieselfrei. Der Stein ist betoniert, gequadert, parallel formatiert. Die Wellen oszillieren um die Rillen zwischen den Platten. Unter der Brücke. In ihrem Kopf. In ihrem Leben. In Bildern. 
Baumwollbeutel. Baumwollbeutel, denkt sie. 
Drei Stufen, Klinke, Guten Tag. Bilder und Texte wie Nichts geht über ein wenig wohlbedachten Leichtsinn
Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes? 
Ich, oh, ja, ähm, nein. Ich möchte mich beschweren. 
Oh. 
Es gibt keine Steine. 
Wie bitte? 
Es gibt keine Steine hier. Ich kann mir doch gar keine Steine in die Taschen stecken. Das geht doch gar nicht. Das ist doch eine ganz unrealistische Anleitung zum Leben, nein, eben nicht. 
Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Möchten Sie ein Glas Wasser? 
Nein, ich kann zu gut schwimmen, ich hab das ja schon als Kind gekonnt. Mit Abzeichen. Das verlernt man doch nicht mehr. Das ist doch völlig unnütz, das ganze Biographische da, oder? 
Das ist eine äußerst ansprechend gestaltete Reihe. Wird sehr gerne verschenkt. Soll es denn ein Geschenk werden? Nein, Virginia Woolf, das tut mir leid. Aber vielleicht Simone de Beauvoir? Könnte ich bestellen. In gleicher Ausstattung. Auch neunzehn neunzig.
Ich war noch nie in Rio, auch noch nie in Basel. 
Reiseführer wiegen weniger als Literatenleben. Aber es gibt schöne Bilder. Auch hier. 
Man kann Bücher in Baumwollbeutel stecken. Das sieht sehr modisch aus. Vielleicht taugen sie ja doch. Links und rechts. Die Henkel sind lang genug. Es gibt ja keine Kiesel hier. Und wenn man sie eingeschweißt lässt, nehmen sie vielleicht gar keinen Schaden. 
Sie können ja nichts dafür ...

Samstag, 1. November 2014

Später

Müde dreht er den Schlüssel herum. "Ich bin's", ruft Herr D., zieht die Schuhe aus, versieht sie mit Spannern, hängt sein Jackett an die Garderobe und füllt die Leere, die tagsüber dort herrscht. "Ja", sagt er und: "Wie immer", "Hab ich unterwegs" und "Nee, nur müde, ich komm gleich, Marie", und sitzt noch auf ein Bier allein in der Küche, im Dunkeln, schaut in das Dunkel der Küche, dreht die Flasche und das Bier zum Strudel, den er im Dunkeln der Küche nicht sieht. "Erprobung offenporiger Asphalt km 212 - 206" stand auf dem Schild, fällt ihm ein. "Offenporig", flüstert Herr D. Er hört seine Stimme und denkt bei dem Wort an ein Herz, das tropft wie eine Plastiktüte mit nadelgestochenen Löchern, in der etwas wie Traurigkeit oder Glück gefroren war, fest, etwas, das vielleicht in dem milden Herbstlicht und der letzten Wärme eines späten Sommertags taut und nach außen tritt. Versuchsweise. Zur Probe. Herr D. steht langsam auf, stellt die Flasche leer in den Kasten. Alles hat seinen Platz, auch Herr D. "Schlaf gut", küsst er Marie auf die Stirn, die er liebt, schon lange und immer, und merkt, dass sie längst schläft. Es ist spät. Herr D. löscht das Licht und den Fernseher und hört auf das Rauschen, draußen vor dem Fenster: Herbst bald. Man sieht es noch nicht, merkt nur, dass die Einfahrt gefegt werden müsste. Herr D. denkt, so fängt es wohl an. Und man merkt es nicht. Nur später wird man sich daran erinnern und suchen und denken, da hat es wohl angefangen. Der Wind trägt die Geräusche der Kleinstadt am offenen Fenster vorbei: Autobahn, Anschluss und Glockenturmschlagen. Erprobung, Versuch, Strecke, Kaninchen. "Mein Hase", so nennt er Marie. Er hört ihren Atem, sie schläft, und er ist ganz allein, ganz allein in der Nacht, und die Zeit gehört ihm. Und er sieht aus dem Fenster ins Dunkel der Krone der Spätsommerlinde. Er küsst Marie. Bald ist Herbst. Dann wird er die Sterne sehen können durch das kahle Geäst. Herr D. lächelt: kahl, klar und schön.

Dienstag, 14. Oktober 2014

Dosenexistenz

Der Himmel lügt blau. Man steht am Fluss, dort, wo man die U-Bahn riecht, die unter einem Gitter vorbeirauscht, so schnell, dass die Blätter tanzen. Auf dem Wasser, in das nachher Tropfen fallen sollen, wenn sie der Prognose trauen, treibt eine leere Fischbüchse mit gehisstem Deckel trotzig gegen ihr Ende an. Sie kündet von der Vergangenheit, von toten Heringen in roter Tunke, die nicht mehr schwimmen. Ahnt sie, was sie verloren haben? Man steht am Fluss und weiß: Der Himmel lügt blau.

Freitag, 26. September 2014

September

Frühes Augustlaub liegt auf den Straßen, als hätte es Rilke gelesen. Das Jahr vergilbt nun langsam mit ihm: ein Fallen, kein Halten, nicht auf, nur die Treue. Alter Mann, beste Jahre. Ich kenn dich, du weißt es und pfeifst drauf. Du ziehst um die Häuser, durch noch schon bunte Wälder und lachst über ihre Angst vor deinem Baldkommtderwinter-November. Aber wenn du dir das stoppelfeldgraue Kinn rasierst und lächelst, erröten ihre faltigen Wangen. Jungmädchenhaft seufzen sie: Goldener Herbst. 

Donnerstag, 21. August 2014

Lebensmittel

Es klingelt. Der Nachbarsjunge hat wieder seinen Schlüssel vergessen. Dann sagt er: "Habt ihr mal einen Schlüssel von uns?", obwohl Julia allein in der Tür steht, ihm wie immer aus dem Sicherungskasten den Schlüssel hervorkramt, von dem sie weiß, dass er ihn nach 10 Minuten wieder in ihren Briefkasten schieben wird. Wie immer. Sie fragt nicht, und er sagt nichts. Funktionale Beziehung. Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre, das Geräusch im Briefkasten käme nicht von dem Nachbarsjungenschlüssel. Heute ist so ein Tag. Sie putzt, weil morgen die Putzfrau kommt, die nicht denken soll, sie hätte nicht alles unter Kontrolle oder das Leben würde ihr entgleiten. 42 ist sie, 42 und ein halbes Jahr. Neulich hat sie gelesen, 85 könnte sie werden, statistisch betrachtet, als Frau, in Deutschland, Julia. Niemand kommt vorbei und gratuliert zum Bergfest. Nur der vergessliche Nachbarsjunge klingelt. Alles wie immer. Julia sitzt am Küchentisch und wartet auf das Briefkastengeräusch. Versuchsweise. Vielleicht behält er den Schlüssel ja länger, weil seine Schwester kommt oder seine Mutter und er vergisst, herüberzukommen und den Schüssel durch den Briefschlitz zu schicken. Dann stellt sie sich vor, die Borsten, die hart und laut hinter der Klappe als Zugluftschutz auf Nahrung, Gedankenfutter, warten, hielten vielleicht einen Brief auf vor dem Fall ins Leere, in dem steht, sie sei schön und er denke an sie. Klug will sie nicht sein, sie will, dass jemand ihr sagt, sie sei schön und jung und er träume von ihr und wage nun diese Zeilen. Und hoffe. Sie sitzt am Tisch und sieht die Krümelberge, die sie noch zusammenfegen muss, weil doch morgen die Putzfrau kommt und alles in Ordnung ist. Sie will nicht klug sein und wissen, dass nur der vergessene Schlüssel zwischen Luftschutzborsten Schwingungsvorgänge erzeugt, eine zeitliche Schwankung der Zustandsgrößen eines Systems, die als hässliches Geräusch den Weg durch den Flur nehmen werden, schallgewellt, bis zu dem Küchenstuhl, auf dem sie sitzt und die Krümel betrachtet am Tag vor der Putzfrau und die Fliege, die den Weg durch das Fenster nicht findet, die fliegenschön ist, flügelflink, eintagsalt und unklug, bis er schließlich in den Kasten fällt. Sie will nicht wissen, was sie weiß, dass man Schwankung als Abweichung von einem Mittelwert definiert, als Differenz zum Erwartungswert und sie dabei an ihr Leben denkt, in dem sie sitzt: Julia am Küchentisch. Sie will nicht hören, was alle wissen. Sie teilt den Namen mit einem Geräusch, das Hydrophone 1999, am Märzersten, im Stillen des Pazifik registriert und aufgenommen haben: Julia. Einmalig. Nicht viele wissen davon. Sie weiß, dass es eine derartige Lautstärke erreichte, dass es von allen Sensoren des Arrays im gesamten Pazifischen Ozean wahrgenommen wurde. Julia weiß, dass das Geräusch im Briefkasten der Schlüssel von gegenüber ist, aber sie will schreien, so laut wie am 1. März 1999, dass alle es hören, dass alles schwingt und alles Geräusch wird. Und wahr. Julia steht auf und kehrt und wird den Schlüssel sorgsam zurück in den Sicherungskasten legen. Wie immer.


Samstag, 16. August 2014

Korrespondenzprinzip

Alles, das mit allem zusammenhängt, es zusammenhält, soll, muss, sonst wäre ja alles Leere, trotz Materie und Zeit, und Gedanken in den Köpfen der anderen nur Gedanken in den Köpfen der anderen, dann würde sie doch nicht denken, dass das große Kind, das nun groß ist und geht, nein, das sie setzt, in eine Maschine, die in den Norden fliegt, und sich freut, weil er es kann und sie es noch muss, und weint, wissend, das gehört zum Handel: Liebe und Abschied und Tränen, weil doch alles mit allem zusammenhängt, weil doch sonst alles leer wäre, wie das Leben der anderen. Sein Flugzeug wird landen, in der Zeit, die die Ringbahn braucht, im halben Kreis, vier Fünftel - dafür gibt es keinen Takt - nach Hause, die sie sich nehmen könnte und ein Auto und so lange fahren, wie er fliegt. Sie käme ins Brandenburgische, Fontaneland mit Kiefernhimmel und Wolkenschatten in grünen Seen, vor denen sie als Kind so grundlos Angst hatte, weil man den Grund nicht sehen kann, Urstromtal und Toteisseen, Sedimente, geschichtete Geschichten, die zu Untiefen werden, Seenlandschaft, Seelenlandschaft, weil die Eltern erzählten von Bucheckernkaffee und sie an Kienäppelkompott denken musste und ihr bang war vor dem Armsein, dem Verlust, wenn man nichts hat, von dem sie erzählten und sagten ihr Wir-hatten-ja-nichts und Als-wir-so-alt-waren-wie-du. Daran muss sie denken, so alt ist er jetzt. Und dann fährt sie los, und die Straßen sind glatt, kaum geflickt, wie das Leben, das fremd und noch ungelebt unter ihm liegt, zu dem er fliegt, in das er sich legen wird wie in ein frisch bezogenes Bett, zu Gast erst, um dann zu lernen, die Falten glattzustreichen am Morgen, zu leben, und biegt zwischen Felder, auf Wege, die kein Plan kennt, und um sie noch ein letztes Wogen oder schon frisch gepflügtes erdreiches Braun, zengartengleich, weil dem Augusttag der Herbst schon innewohnt und sein Leuchten: Das große Kind ist groß, und es braucht zwei Flugzeuge, um zu ihm zu kommen. Und wenn sie das Bild von sich, das er - Zennström sei Dank - beim Fernsprechen sieht, sieht, dann denkt sie, du bist doch noch gar nicht so alt, und lächelt ...

Donnerstag, 31. Juli 2014

Bleibender Eindruck

Herr Bruchsal legt Wert darauf. "Wenn es so ist, dann ist es so", sagt sich Herr Bruchsal. Dann soll es so sein. Herr Bruchsal sitzt auf einem Küchenstuhl an einem Küchentisch. Herr Bruchsal wischt die Krümel mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand zusammen und schiebt sie über das Wachstuch zur Stirnseite des Tisches in seine linke Hand. Herr Bruchsal wohnt über einem Geschäft, in dem früher, als er klein war, Fachverkäuferinnen Kurz- und Meterwaren verkauften. Heute können dort Touristen Frühstücksbrettchen und Fernsehtürme aus Plastik und Kissenhüllen mit Eulen oder Postkarten mit Kiezansichten als Souvenirs erwerben. Herr Bruchsal bevorzugt Teller. Herr Bruchsal fährt gern Bus. Er hat Zeit mittlerweile. Das ist Herr Bruchsal. Manchmal schreibt Herr Bruchsal kleine Geschichten über früher, über Großwerden und Erwachsensein und freut sich über Wörter wie Wachstuch und Kurzwaren. Dann fällt Herrn Bruchsal ein, dass er früher jung war und in Susanne verliebt. Einmal saß er hinter zwei Frauen im Bus und hörte, wie die, die aussah, als hieße sie Susanne, auf die Frage, was wohl aus diesem Bernd geworden sei, antwortete: "Welcher Bernd?", und da beschloss Herr Bruchsal, er müsse etwas hinterlassen. Herr Bruchsal setzte sich an seinen Küchentisch und schrieb eine Geschichte. Pünktlich vor Einsendeschluss von "Unsere schreibenden Leser". Herr Bruchsal zahlte gern die 1,80 für das Einwurfeinschreiben. Nicht, dass am Ende noch die Post ... Lieber auf Nummer sicher. Das ist Herr Bruchsal. Wenn Herr Bruchsal jetzt hinter Susanne säße, könnte er aufstehen, eine Verbeugung andeuten, während er sich entschuldigte, unbeabsichtigterweise ihr Gespräch mit angehört zu haben - das sei ja nicht seine Art, aber er konnte nicht umhin - und sagen, besagter Herr schreibe jetzt für eine Zeitung.
Herr Bruchsal sitzt auf seinem Küchenstuhl an seinem Küchentisch. Maurice Debeuffe (Praktikant Redaktion) bedauert mit freundlichen Grüßen und schreibt "leider" und "Menge der Einreichungen". "Wenn es so ist, dann ist es so", sagt sich Herr Bruchsal, wischt die Krümel mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand zusammen, schiebt sie über das Wachstuch zur Stirnseite des Tisches in seine linke Hand und wirft sie in den Ausguss. Herr Bruchsal steht auf, nimmt einen mittelschweren Hammer und geht die zwei Treppen nach unten in das Geschäft mit den Touristenfrühstücksbrettchen, auf denen steht "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better." 



Beckett gehöre nicht unter Toast, darauf lege er Wert, gibt Bernd B. der eintreffenden Polizei gegenüber zu Protokoll.

Dienstag, 15. Juli 2014

Burkhard Spinnen wird verramscht

"Du hast das Dinkelmehl vergessen", höre ich durch den Schaum in meinen Ohren. Das Dinkelmehl fehlt. Mist. Ich habe das Dinkelmehl vergessen. Dabei hat sie mich doch nur gebeten, Dinkelmehl zu kaufen, das entspelzte. Da bittet sie mich einmal um was. Sagt sie. Und dann vergess ich's. Typisch. Sagt sie. Ich drehe den Hahn zu. "Aber nun ist ja alles zu." Mist, ich habe vergessen, ihr dieses Dinkelmehl mitzubringen. "Wo du auch immer deinen Kopf hast?!" - "Ich könnte zu Famila fahren. Famila hat bestimmt noch auf." Famila - da fährt man über die Autobahn hin. Für Dinkelmehl. Aber Famila hat bestimmt noch auf. Ich setz mich ins Auto. Es gibt Mutter-Kind-Parkplätze. Rein rechtlich betrachtet können sich auch kinderlose Herren konsequenzlos darauf abstellen. Kinder stellen ja keine Behinderung mit Parkplatzanspruch dar. Sie kosten nur Nerven, Heilanstalten gibt es dafür, und Privatversicherte bekommen Einzelzimmer. Ich bedaure, kein kinderloser Einzelherr zu sein, als ich parke. Zu Hause steht ein Ordner "Kinder Kosten". Darin sammle ich Ämterschriftverkehr, Betreuungsgutscheinanträge. Formulare. Instrumentenkarussell. Zukunftsmusik. Zahnspangenquartalsrechnungen. Kostenfaktoren. Kinderreichtum. Kinderlachen macht glücklich. Jaja. Ich werde alt darüber. Immer ist der Kopf voll, den man sich zerbricht. Schulfrage, Schuldfrage. Und darüber hab ich vergessen, ihr das Dinkelmehl zu kaufen. Aber ich bin ja über die Autobahn, weil Famila noch aufhat. Für Dinkelmehl. Wo ich auch immer meinen Kopf hab?! Die nassen Haare zeichnen einen dunklen Rand auf dem Kragen meines Mantels. Wie südliche Küsten. Schaum im Ohr. Aber Famila hat noch auf. Aphrodite war schaumgeboren. Zwischen meinen Ohren. Aber das Dinkelmehl vergess ich. "Du weißt doch, das spelzfreie. Denk bitte dran." Lidl hat das nicht. Aber Famila hat ja noch auf. Die haben doch alles. Das Einkaufserlebnis im Norden. Über die Autobahn, weil ich's vergessen habe, für Dinkelmehl, und stehe konsequenzlos auf einem Mutter-Kind-Parkplatz, weil der ganz nah am Zebrastreifen zum Eigang zum Einkaufserlebnis des Nordens liegt und die Zeit doch läuft. Irgendwann ist's zu spät. Also Dinkelmehl. Und dann macht auch Famila zu. Aber die haben ja alles. Selbst Jette-Joop-Taschen hinter einer Theke aus Plexiglas. Ihr Vater hat doch eine Villa in Potsdam. Vaterlose Mutter-Kind-Parkplätze. Arme Väter. Potsdam ist Osten. Und daneben Wannsee-Westen. Aber das versteht man hier nicht. Berlin ist weit. Zu Famila über die Autobahn. Wegen Dinkelmehl. "Wo hast du nur immer deinen Kopf?" Mein Portemonnaie liegt auf dem Küchentisch. Mist. Im Aschenbecher liegt Einkaufswagengeld. 3,50 retten, klimpern in der Manteltasche wie in meinem Kopf. Das muss reichen. Genug.
Vor den Kassen stehen Kreuzworträtsel-Sudoku-Remittenden-Tische. Mängelexemplare. Preisreduziert. Verlegte Hoffnungen. Nur mal sehen. Fatal. Ich kann doch nicht. Ich muss doch zurück. Sie wartet. Keine Zeit. Aktionspreis. 3,49. Der Reservetorwart. Burkhard Spinnen. Der hat mal Preise ... "Der Mittelweg ist und bleibt der gefährlichste." Kein Zurück.
Ich werde einfach sagen, Dinkelmehl war aus. 

Sonntag, 29. Juni 2014

Solo

Herr Baryschnikow wohnt im zweiten Stock. Er hat einen kleinen dicken Hund, Susi. Herr Baryschnikow trägt blaue Latzhosen. Herr Baryschnikow trägt immer blaue Latzhosen. Herr Baryschnikow putzt Fenster. Das weiß ich, weil er einmal zu mir gesagt hat, na so wird das nichts, als ich mich mit dem großen Badfenster mühte. Das ist mal nachträglich eingebaut worden, es passt nicht hinein so recht, denn das Bad ist klein, und wenn ich das Fenster öffne, kann ich mich kaum bewegen. Es geht zum Hof, zur Treppe, die außen zur Haustür führt. Alle Leute müssen daran vorbei. Auch Herr Baryschnikow in seinen blauen Hosen. Dann sagt er, na so wird das aber nichts, und ich frage ihn, wieso nicht, und er sagt, so machen Sie nur Streifen, wenn das trocknet und die Sonne drauf scheint, haben Sie keine Freude daran. Ich ziehe ja nachher die Gardinen zu, sage ich. Muss ja sein, weil doch das Fenster direkt zum Hof geht und alle Leute daran vorbei gehen, die Treppe hoch zur Haustür. Unter dem Fenster ist eine Heizung, die sich nicht ausstellen lässt. Das habe ich erst nach dem Einzug bemerkt, im Herbst. Die Wärme steigt auf und lässt die Gardine tanzen. So, als wäre jemand dahinter, der auf die Treppe schaut, um zu sehen, ob jemand kommt. Ich erschrecke nur noch selten, weil ich doch weiß, dass niemand da ist, wenn ich es nicht bin, aber manchmal eben doch hoffe, es warte jemand, wenn ich komme, den langen Schlüssel am Bund in sein Schloss stecke, an der Tür, das nur für ihn gemacht ist, dass passt, beide vereint, Schlüssel und Schloss, für zwei Umdrehungen Glück, auf mich. Die Gardine stammt vom Vormieter. Ist ja nur vorübergehend. Was Neues lohnt nicht. Einmal war die Post falsch sortiert. Seitdem weiß ich, dass der Mann mit dem dicken Hund Michael heißt. Michael Baryschnikow trägt blaue Latzhosen und den Namen eines berühmten Tänzers in den zweiten Stock. Seine Fenster sind immer geputzt. Er liebt seinen Hund und ist allein. Vielleicht stirbt der schöne Name mit ihm aus. Ich packe wieder Kisten. Herr Baryschnikow sagt, er lerne jetzt Standard. Videokurs aus der Bibliothek. Weil ich doch mal gesagt habe, das mit dem Namen und so und er fragen wollte, ob ich vielleicht. Aber jetzt zieh ich ja weg. Ich sage Auf Wiedersehen und weiß, dass ich lüge. Herr Baryschnikow hat Susi. Herr Baryschnikow hat geweint.

Dienstag, 24. Juni 2014

Heim


Auf einmal. Dicke Tropfen. Schwer und plötzlich fallen sie. Wenn sie die Pfützen treffen, die sie tiefer machen, immer tiefer, bis zum See, ganz uferlose Straße nun, spritzt das Wasser hoch vom Kopfsteinpflaster zu den Knien unterwegs. Die Häuserwände werden dunkel, schicksalsergeben und schön wie Sandstrand und Kleckerburg ganz vorn bei den Wellen, nur Gießkanne und Eimerchen, Sandstein eben, war damals Mode, schon wieder ein Früher, aber Sommer ist ja auch jedes Jahr, langsam, stetig, unaufhaltsam jetzt und vergänglich bis zur heiteren Wolkenleere nachher, dann, wenn alles vorbei ist und wieder hell wird, die Steine ihren Glanz verlieren und die Besorgten wie Schnecken aus ihren Verstecken kriechen, in denen sie erwachsen und schirmlos gezwungen verharrten (die Schuhe, der Anzug, die Frisur), noch zweifelnd zum Himmel blicken in die Fünfminutenspätersonne und ich die Tür aufschließen werde, um vier, begossen, getrauft, aber pünktlich - la politesse des rois - am Ziel. "Huch, na nun aber schnell, raus aus den Sachen, du holst dir ja den Tod, Kind. Na komm erst mal rein, Käffchen ist fertig. Also wirklich, so ein Schietwetter, meinst du nicht auch?" Die Handtücher riechen nach Lux-Seife und haben komische Muster, weil das Gelb und das Rot darin langsam verblasst: Kindheit, nunaberabmarschinsbett- und gutenachtkusskariert. Ganz klein ist sie jetzt. "Ach", sage ich, lächle, "eigentlich nicht."

Mittwoch, 18. Juni 2014

Frische Luft

Hamse nich jesehn, die hat die Haare jetzt janz kurz, ja, janz kurz. Doch, richtich kurz. Da steckt bestimmt 'n Kerl dahinter. Doch, na Klärchen, also hörnse mal, ick meine, warum solltese denn sonst? Und so freundlich wie die imma is. Die hat bestimmt wat am Loofen. Doch. Meinse nich ooch, die hatten Neuen? Hamse die nicht jesehn? Janz kurze Haare hat die jetze, wo die doch früha imma mit diese Locken. Richtich hübsch sah die imma aus. Man sagt doch imma, det mit die Haare, wenne Frau die abschneiden tut, det dann wat sein muss. Bestimmt 'n Kerl. Naja, wennse meint. Nee, reden tut die nicht. Imma nett Juten Tach und Juten Abend und Uff Wiedasehn, jaja, det schon. Aber sonst, nee, man weeß ja nich. Nüscht weeßte doch heutzutage. Und nachher hat wieda keener wat jewusst. 

Ich schließe die Tür hinter mir und warte, bis ihre Schritte im Treppenhaus verhallt sind, weil die Dielen im Flur so laut knarren, dass man es draußen weiß. Nichts passiert. Nur Stille. Etwas muss doch passieren! Ein Spatz fliegt gegen die Scheibe des Badezimmers. Ein Geräusch wie ein Vollgummiball in einer Pfütze auf Beton, wenn der Regen längst weg ist und das Wasser nur ein Rest. Benommen setzt er sich auf das Fensterbrett. Zwei Stockwerke, zwischen Himmel und Erde. Nirgends so ganz. Aber auf halbem Wege dahin. In der Mitte, gemäßigter Aufwand. Vernünftig. Bedacht. So wenig Unsinn im Kopf. Ich sehe ihm zu, wie er sich sammelt. Ich würde ihn ja auf ein Glas Wasser hineinbitten und fragen, besorgt, ob alles wieder in Ordnung, vielleicht eine Aspirin gegen Spatzenkopfschmerz oder so. Ich setze mich auf den Beckenrand und warte. Kühles Email. Und gebogener Rand. Füße. Von unten grau und rau. Und an der einen Stelle links, da musst du aufpassen, Kind, da darf man nicht mit Feinstrumpfhosen. Das gibt Tränen. Die haben ja mal ein Vermögen. Lange her. Alt. Nicht oh-sieh-doch-nur-ein-original-alt, sondern ach-noch-nicht-gemacht-alt. Übriggeblieben. Lange her. Plusquamperfekt. Hinter der Scheibe wie hinter Glas: Der Spatz sitzt da. Fragt er sich, ob bei mir alles in Ordnung ist? Ich rede mit Spatzen? Vielleicht würde er mir zu frischer Luft raten. Die soll ja Wunder wirken. Spazieren. Park. Bank. Oder so. Aber Pärchen. Jetzt fliegt er fort. Dabei wollte ich ihn noch fragen, was er von kurzen Haaren hält. Ich strecke meinem Spiegelbild die Zunge heraus und kann sie schon hören, wie sie fragen wird: "Wie denn, Sie jetze ooch?", und dann lache ich und sage: "Auf Wiedersehen", immer freundlich, immer nett, und gehe an ihr vorbei. Alles in bester Ordnung. Bestimmt.

Mittwoch, 11. Juni 2014

Modelleisenbahn

Im Glas der Scheibe spiegeln sich ihre Schritte. 1, 2, 3, 4 zählt sie. Mit jedem Rechts, mit jedem Links wippt ihr Zopf. Weiter. Weiter. 1, 2, 3 und 4. Sie geht. Nichts ist wie bisher. Ihr Leben plötzlich Theorie. Wie die S-Bahn nach Erkner. S3 vertraut ab Ostkreuz. Doch Erkner unbekannt wie Swakopmund, Spitzbergen, Swasiland. Nie dagewesen. Theorie. Wie Glück oder Freiheit. Es gibt sie. Sagt man. Wie die Anzeige ERKNER auf dem Triebwagen der Bahn, auf der Anzeigetafel, wenn sie die 8 Minuten zählt, die noch bleiben bis zum nächsten EINSTEIGEN, BITTE, die man wartet, die vergehen und niemand weiß, wohin, wie das Leben, auf das man zurückblickt und sich wundert, wie die Zeit vergeht, ach Gott, ach Gott. Sagt man dann. Zurückbleiben, und der Zug wird ganz klein in der Ferne, er fährt, mit Erkner als Ziel, in die Ferne, wo Erkner liegt wie ein Punkt am Satzende. Punkt. 
Sie beschließt, morgen das Aussteigen zu vergessen.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Norden

Am Meer möchte ich sein. In einem Haus hinter den Dünen. Und bläst der Wind, hört man mit ihm die See. Und der Sand in den Haaren ist salzig und macht dich ganz blond und lachen und ist überall, in der Luft, in den Taschen, im Traum. Nach Westen sehen, wo die Sonne ganz halb wird über dem Wasser, sich spiegelt, Schlaf gut sagt und einfach, für sich, ganz allein untergeht, versinken ein bisschen mit ihr und abends Geschichten erlauschen, die zwischen den Wellen spielen, die du mir leise erzählst, ganz leise, damit ich das Rauschen in der Muschel noch hören kann, wenn du mich zudeckst und es Nacht wird und die Sterne kommen, weil kein Licht ist, nicht finster, nur Nacht: Am Meer, hinter den Dünen, steht ein Haus. Ein Pfad fädelt sich durch den Ginster, der am Morgen golden leuchten wird wie der Tag mit der Sonne, die lacht, über sich. Und uns, sagst du. Doch jetzt ist es Nacht, fast schon Morgen, bis der Wecker klingelt in einer Stadt, die ozeanfrei ist, gekämmt und gefangen, in Ordnung, alles, bestimmt, lächle ich. Tapfer. Straßenbahnquietschen. Kaum Möwengekreisch.

Sonntag, 1. Juni 2014

Mangelware

Blauer Himmel. Blau wie ein Wochenendwunder, wenn man vor den Kindern aufwacht und wach ist, wenn alles noch Ruhe ist drinnen im Haus. Draußen vor dem Fenster spielen Kinder in der stillen Straße. Glocken rufen sonntags zur Pflicht. Das tun sie jetzt wieder. Nicht meine, nicht mich. Noch einmal umdrehen, zum Fenster, mal sehen: Der Wind pustet kleine Wolken vor sich her. Zum Spaß. Kaiserwetter nannte es Großmutter früher. Das hat meine Mutter gesagt. Bei uns hieß das dann: Betten abziehen und Wäsche gemacht und dann ab damit auf den Balkon, wo Leinen gespannt waren, bis man gar nichts mehr sah außer Weiß oder Streublümchen und lauter stoffbezogenen Knöpfen. Und oben hielten Wäscheklammern die wehende Freiheit. Nach Südwesten ging's raus. Da gab es viel Wetter. Da ging alles ganz schnell. Und abends waren die Laken manchmal ganz steif, von zu viel Sonne. Und im Bett roch es dann nach dem Tag, nach dem Wind und der Freiheit, die von Wäscheklammern gehalten, angeleint wehte, von Pankow, nach Südwesten, vom zweiten Stock. Alle Großmütter von damals sind tot jetzt, schon lange. Meine Wäsche riecht nicht mehr nach Kindheit und Sonntag, denke ich mit der Decke über dem Kopf, wenn ich die Augen schließe und wieder klein bin, sonntags und wach. Ein Flugzeug zieht Kondensstreifen. Aeroplan ist ein Wort für Gedichte von früher, über Zukunft und Aufbruch, wie jung sein und frei - großes Pionierehrenwort. Das Geräusch fällt mir ein, wie es klingt, mit einem Lappen an den Leinen entlang, hin und zurück und wieder von vorn. Damit's nicht gleich wieder schmutzig - die Luft ist doch nicht sauber, Kind - wird. Komisch, was dann alles wieder da ist, was alles so bleibt. 

Dienstag, 27. Mai 2014

Fenster zum Hof

Ganz nass bin ich noch vom Regen. Ich tropfe auf die Stelle, auf der ich stehe. Wenn ich nicht gehe, hinterlasse ich eine Pfütze. Wie ein Welpe. Ich bräuchte ein Handtuch. Ja. Ich stehe nur in der Küche und schaue durch ihr Fenster, nass wie ich bin, in den kahlen Hof. Manchmal brennt Licht gegenüber. Nicht oft. Manchmal stehe ich am Fenster und gieße den trockenen Efeu, der in einer Ampel am Messingknauf des Oberlichts hängt. Nein, nicht Knauf, Knebel heißt das wohl. Oder Wirbel? Gülden geschwungen auf Holz, das unter der abblätternden verblichenen Farbe, die einmal Weiß gewesen sein muss, dunkel und grau zum Vorschein kommt. Voller Risse und doppelt sind meine Fenster. Dazwischen ist Niemandsland. Auf halbem Weg nach draußen, in die Freiheit, liegen tote Fliegen und sind gestorben einen kleinen tragischen Tod, den niemand beweint: die Freiheit so nah wie die weißen Hochhäuser früher, wenn die S-Bahn raste, Plänterwald, Baumschulenweg. Nur nicht zu langsam, denn die Türen ließen sich öffnen, Messingtürgriffe gab's. Kraft brauchte es. Und Mut auf freier Strecke, wo nur Gärten links und rechts die Freiheit. Weiße Häuser, wohin man nie kommt. Wusste ich damals, weil sie es sagten, weil ich ein Kind war und das Leben noch lang. Eine Kurve macht die Bahn und legt sich schief wie ich manchmal den Kopf, wenn ich den treuen Efeu betrachte, der sein Leben gibt am Fenster zum Hof, weil der Topf viel zu klein ist, zu klein und beschränkt, weil er doch Luft braucht und Wasser. Zum Leben eben das, was fehlt. Auch jetzt. Manchmal. Ja. Ich bin nass und öffne das Fenster drei Stockwerke tief und grau überall. Und die Blätter sind gelb und der Topf viel zu klein. Und wenn ich gieße, dann tropft es, weil die Erde ausgelaugt, tot ist. Der Efeu am Oberlicht. Drüben brennt Licht. Ich lächle und denke, auch er ist allein. Will nicht, dass er's nicht ist. Einen Efeu sollte er haben, am Oberlicht, gießen und hersehn zu mir, von dort drüben. Und der Rotwein in meiner Hand macht mich vielleicht mutig. "À la vôtre", sollte ich rufen. Und er: "Du bist ja ganz nass ..."

Mittwoch, 21. Mai 2014

Versuchsanordnung

Mit vollen Händen zum Fenster hinein wirft der Sommertag die Schatten seiner Sonne an die Wand von Raum 311. Ein schiefes Fensterkreuz auf leuchtendem Weiß blendender Laune derer, die das Lachen lieben. Davor, in der Schwebe, tanzen Flocken, kreidestaubtrocken, Magnesiumoxid. Chemie, organisch, gefällt, Reaktion. Exotherm wie ihr Lächeln, wenn sie lächelt. Manchmal sieht sie ihn an. Die Ordnungszahlen 3 und 11 klingen wie ihr Name. Nur für ihn. Er fragt sie, ob sie mit auf die Wiese kommt, zwei Stockwerke tiefer, wenn Französisch ist, aber die Sonne doch scheint und der Tag ist wie Wiesenschaum und Buschwind, Kraut und Rosen. Sie schüttelt den Kopf. Leicht silbern ist ihr Blick, alkalimetallisch ihr Nein.

Montag, 19. Mai 2014

Durchschnittlich

Draußen im Garten steht ein Strauch mit goldgelben Blüten. 20 oder 30 Jahre alt soll er werden. Vor 20 Jahren war ich das auch. Nicht viel für einen Strauch, der auch ein Baum sein könnte, denke ich. Doch die Freunde, die ihn zum Einzug schenkten, meinten, er sei anspruchslos. Ein Geschenk ohne Ansprüche mit mittlerer Haltbarkeitsdauer. Nett. Hummeln mögen ihn. Ich mag Hummeln. Praktisch. Im Wind machen seine Zweige Geräusche. Die klingen wie Regen vor Fenstern. Solide. Draußen. Davor. Goldblondes Rauschen. Goldrausch. Goldregen. Bei Sonne, wenn der Garten und mein Zimmer ganz windstill sind, dann lehne ich mich hinaus (denn hier drinnen sitzt immer ein Wie: wie die Erinnerung an Pfeifenrauch, der sich nicht vertreiben lässt, wie Gedanken an Filme von früher, die einfach nur kommen und da sind, man den Titel nicht mehr kennt, nur noch weiß, dass Nanna, Karen, Lasse und Jørn einen Schatz finden, im finsteren Wald, und mit dem Räuber Katz und Maus spielen, in Dänemark war das, wo die Kinder blond sind, ein Lied summen, mit Haaren wie Licht, weil Sommer ist) und zähle die Zeit, die noch bleiben soll, wenn ich ihn so lasse und einfach nur schau: Wenn es warm ist, dann knackt er - peng-peng-hotzenplotz - und verschießt seine Samen. Körnchenförmige Verbreitungseinheiten. Publikumswirksam und meterweit bei Trockenheit. Als Windstreuer. Für Windhühner Windeier. Und ein Körnchen Wahrheit. Im Sommer, bei hohen Temperaturen. Da steigt die Gefahr kalkschalenfreier Eier. Bei Hühnern. Wenn sie alt werden. Wenn man sie lässt. Der Durchschnitt ist 20. Da geht aber noch viel mehr. Sowas weiß ich. Und das mit Nanna, Karen, Lasse und Jørn. Aber das ist egal und so lange her ...


Mittwoch, 14. Mai 2014

Keiner weiß mehr

Die Sonne scheint als Fettfleck auf Butterbrotpapier. Träge. Ich müsste einkaufen. Butter, Brot, Papier. Ich müsste arbeiten. Ich habe Hunger. Der Kühlschrank ist leer. Ich füttere nur noch Vögel. Ganzjahresfutter. Ambrosiageprüft. Kost, Logis, Unterhalt. Draußen vor dem Fenster. Ich schaue ihnen zu. Ich nenne sie Rolf Dieter und Gustl und Else. Ich warte. Auf Dämmerung, gestreutes Restlicht. Fleckenfreiheit. Spatzenaktivität während der zivilen Dämmerung (neununddreißig Minuten in Deutschland, im Durchschnitt, da ist Lesen im Freien noch möglich, ganz bürgerlich). Sie pfeifen auf die Statistik. Unterhaltung auch zur Mittagszeit. Mittag-Leffler-Funktion. Für Zufallsbewegungen. Diffusionsprozesse. Bewusstseinsströme in Spatzenhirnen. Fragezeichen. Deal ist Deal. Gekürte Pflicht. Protestantische Ethik. Zurück an die Arbeit. Zerstreut.

Donnerstag, 8. Mai 2014

Erstmainelkenvergangen

Ich stelle einen Stuhl auf die Straße. Der Himmel ist blau. Die Sonne scheint. Sommersprossenwetter. Das Leben passiert. Aus einem Schornstein, der hoch ist, lang, so lang wie die Zeit bis zum Großwerden, wenn man Kind ist, steigt Wasserdampf. Die einzige Wolke heute. Manchmal dreht der Wind, dann werfen die Wolkenfetzen Schatten. Die ziehen vorüber und knipsen das Licht auf dem Bürgersteig, auf dem mein Stuhl steht, an und aus. An und aus. Erinnerung. Ich sitze da. Das Leben passiert. Ich winke ihm zu. Ein Maireflex. Wie früher mit Nelken Tribünen mit alten Männern mit Hut, weil wir zusammen das Klassenbewusstsein der 8b demonstrieren, Treffpunkt um 8, Vinetastraße, noch Fragen? 
Ihr steht zusammen, der Rest der 8b ist weit weg, versprengt, weil die U-Bahn immer voll ist am 1. Mai. Zwischen Schönhauser und Dimitroff sagt er: "Riech mal die Nelke." Du riechst die Nelke und fühlst dich dumm, weil du nur diese Nelke riechst oder so tust, weil du gar nichts sagen kannst, weil ihr doch hier zusammensteht, ganz allein in der vollen U-Bahn und du so tust, als ob du die Nelke, weil er doch zu dir gesagt hat, du sollst mal die Nelke ... Der Himmel ist blau, und die Sonne scheint durch die Fenster, und du bist die mit den Sommersprossen, die aus der vorletzten Reihe, wo die sitzen dürfen, die vernünftig sind. Wenn man vernünftig ist, hat man seine Ruhe, dann muss man zwar in den Gruppenrat, aber Schriftführer ist ok, da muss man nur das, was die anderen sagen, mitschreiben. Mitlaufen muss man. Wenn er etwas sagt, schreibst du "Thomas sagte:". Du weißt, dass ihn das ärgert. Er will Tom genannt werden, weil das wie Westen klingt. Alle sagen Tom zu ihm, du schreibst "Thomas sagte:", weil alle ihn toll finden, weil er groß ist und dunkel, so wie der aus La Boum, und du wünschst dir manchmal, dass nur du es wüsstest, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Dann stellst du dir vor, dass er dich ansieht und du ihm dann sagst, dass du weißt, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Und dann würde er lächeln und sagen: "So wie deine". Er würde plötzlich merken, dass deine Augen grün sind, mit kleinen braunen Sprengseln, die man hinter der Brille gar nicht sieht, nur wenn man ganz nah herankommt, was aber niemand tut. Auch er nicht. Darum schreibst du "Thomas sagte:". Du siehst ihm zu, wie er marschiert, mit der Nelke in der Hand. Im Klassenverband. Wie im Märchen, bei Grimm, wo ein Pudel die glühenden Kohlen fressen muss und die Schöne so schön ist, dass kein Maler sie schöner hätte malen können, wo steht, was dir einfällt, wenn du ihn siehst: "'Ich will heim in mein Vaterland; willst du mit mir gehen, so will ich dich ernähren.' - 'Ach', antwortete sie, 'der Weg ist so weit, und was soll ich in einem fremden Land machen, wo ich unbekannt bin.' Weil es also ihr Wille nicht recht war und sie doch voneinander nicht lassen wollten, wünschte er sie zu einer schönen Nelke und steckte sie zu sich."

Es wird kühl, ich gehe hinein. Ich bin jetzt groß, und das Leben passiert eben. Ja. So wie damals. Ich verwende jetzt Sonnencreme. Aber auf meinem Küchentisch duften Maiglöckchen. Keine Nelken mehr.